Dienstag, 16. September 2008

La Danse macabre


Was in des Dammes tiefer Grube
Die Hand mit Feuers Hilfe baut,
Hoch auf des Turmes Glockenstube
Da wird es von uns zeugen laut.

Das zweite Ziel an jedem ersten Tag des offenen Denkmals war die St. Marienkirche in unmittelbarer Nähe der Parochialkirche.
Unter Berlins Kirchen ist sie mein eindeutiger Favorit, was nicht zuletzt an den reich verzierten Epitaphen liegt. Ich habe nun einmal ein leicht morbides Faible für Sanduhren, Totenschädel, Engel und fette Putten.
Aus dem Jahre 1292 datiert die erste urkundliche Erwähnung der St. Marienkirche, die neben der Heiligen Maria auch der ebenso heiligen Anna und dem ebenfalls nimbusgekrönten Mauritius geweiht war / ist.
Vorbei am Sühnekreuz und einer Bettlerin - wie nahe das Mittelalter doch scheint! - betrat ich die Kirche. Hinter einer Glaswand, die das kunsthistorisch ebenso interessante wie wertvolle Totentanzfresko vor zerstörerischen Einflüssen und Kirchgängern schützt, erblickte ich eine Menschentraube, die sich an den Turmaufstieg machte. An die Scheibe klopfen und obszöne Gesten machen hätte vermutlich nicht bewirkt, dass die Gruppe auf mich wartete. Also betrat ich den Kirchenraum und wandte mich einer Tür zu, hinter der die Turmbesteiger offensichtlich ohne mich entschwunden waren. Leider blockierte eine japanische Touristengruppe und ein stoischer Kirchenmitarbeiter eben jene Tür. Doch ich hatte Glück. Eine ältere Dame trat aus dem Raum und fragte, ob noch eine Gruppe für den Totentanz da wäre. Sofort hob ich die Hand. Nun ja, manche Leute sind eine Insel, ich bin eine Gruppe.
So folgte ich der Dame durch die Tür, die Japaner und eine rüstige Rentnerin im Schlepptau.
Eigentlich war ich gar nicht so sehr am Totentanz interessiert. Viel mehr war ich darauf bedacht den Turm zu erklimmen. Von der Gruppe, die diesen Weg angetreten hatte, war jedoch keine Spur mehr.
So ließen die Rentnerin und ich - die Japaner hatten sich recht schnell aus dem Staub gemacht, da sie den Vortrag zwar offensichtlich interessant fanden, aber des Deutschen nicht mächtig waren - uns in die Geschichte des Totentanzes unterweisen.
Anders als bei anderen Totentänzen wird das Berliner Exemplar nicht von einem Dominikaner, sondern einem Franziskanermönch angeführt (kleiner Gruß an die Franziskaner aus der Nachbarschaft?). Geistige und weltliche Ständevertreter führen einen Schreittanz mit dem Tod auf. Inmitten des Freskos erscheint eine Kreuzigungsszene, was auch als eher unkonventionell für einen Totentanz zu werten ist. Unter dem Fresko prangen Textferse in Mittelniederdeutsch (Berlins erste Dichtung!), in der die zum Tanze Aufgerufenen den Tod um Aufschub bitten.
Vermutlich stammt das Fresko aus dem Jahre 1484, als der Tod reichlich Gelegenheit zum Tanzen hatte - die Pest grassierte.
Für den mittelalterlichen Besucher der Kirche war der Totentanz Teil einer Prozession. Anders als heute betrat man die Kirche durch das Westportal und schritt unter dem Totentanz gen Gottesdienst. Man könnte dies zynisch als genialen Werbeschachzug der Kirche verstehen. Dem Gläubigen immer brav das fragile irdische Dasein vor Augen führen, ihn immer an das drohende Damoklesschwert des Harmagedon gemahnen und schön den Ablasshandel zelebrieren. In gewisser Hinsicht hat sich bis heute kaum etwas geändert. Vom Totentanz aus erreichte man das Taufbecken und schließlich den Kirchenraum - Sinnbild des heiligen Jerusalems. Fünfzehn Altäre soll St. Marien besessen haben. Nach dem Gottesdienst verließ der Gläubige unter der Schutzmantelmadonna die Kirche.
Mit der Reformation entledigte man sich auch des höchst katholischen Totentanzes. Mittels Kalk. Und das erwies sich als Glück für das Fresko, denn die Kalkschicht bewirkte eine Konservierung. Bei Renovierungsarbeiten 1861 wurde der Totentanz entdeckt und "restauriert". Maler überpinselten das Fresko und übertrieben es leider mit der viel gerühmtem künstlerlischen Freiheit maßlos. So stellte ein Maler fest, dass dem Junker der im Text angedichtete Habicht auf dem originalen Fresko fehlte. Aber das ließ sich ändern. Und so ergänzte er "Her juncker med jwen haweke fyn" um einen Habicht. Eine der Todesgestalten wirkte so gar nicht tänzerisch. Ergo wurde er mit Pinsel und Farbe in bessere Pose gebracht. Ergebnis: als die neue Farbe wich, hatte Gevatter Tod mal eben drei Beine. Hat doch auch was. Heute ist die neue Farbschicht durch Trockenlegung der Wände fast gänzlich abgetragen. Geplant ist eine gründliche Reinigung des alten Freskos.
Ich frage mich, wie heute ein Totentanz aussehen würde. Wen könnte man auftanzen lassen? Die steife Kanzlerin, König Fußball in Person des Kaisers Beckenbauer (den Tod zu seiner Seite einen Fußball dribbelnd), den homophoben Kardinal Meisner mit Tetzelkasten, Prügel-August? Ich hätte da so einige Ideen...
Als die nette Dame mit ihren Erläuterungen zum Ende gelangt war, fragte ich vorsichtig an, ob ich denn noch zu der Turmführung dazu stoßen dürfe. "Na dann müssen Sie aber sehr schnell sein!", war die Antwort. Die rüstige Rentnerin erwies sich als meine Fürsprecherin: "Das ist sie bestimmt!" - und das war ich auch.
Im Eiltempo betrat ich die Wendeltreppe, von der ich mir nach einiger Zeit sicher war, dass sie nie enden würde. Schließlich erreichte ich mit den ersten Anzeichen eines wahren Drehschwindels ein Plateau. Immer den Stimmen nach, war meine Taktik. Nur hörte ich niemanden. Zwei Stahltüren zweigten in das innere der Kirche, bzw. auf dessen Dachstuhl ab. Ich hielt es aber für logischer, dass sie Führung irgendwo über mir statt fand. Also bestieg ich eine antike Holztreppe. Das nächste Plateau erreichte ich röchelnd wie eine altersschwache Dampflok. Ich schoss ein paar Fotos, um meine Atmung und meinen Puls wieder zu normalisieren. Ein Preis für die schnellste Turmbesteigung wäre mir aber garantiert sicher. Es ging weiter empor, diesmal aber langsamer. Und plötzlich wurde es dunkel und laut. Ich versuchte mich zu orientieren und blickte dabei empor. Beinahe wäre ich vor Schreck die Treppe herunter gepoltert. Das wenige Licht drang aus Fensterläden, der Lärm vom Zugwind und genau über mir erblickte ich den dicken Klöppel der Kirchenglocke. Mein einziger panischer Gedanke war: wie spät ist es? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich entweder einen Herzkasper oder den Verlust meines Gehörs zu beklagen hätte, wenn St. Marien just in diesem Moment die Stunde geschlagen hätte. Mit etwas zittrigen Händen fotografierte ich das wohl eher seltene Bild und machte mich an den Abstieg.

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