Freitag, 19. September 2008

Grausiges Ende eines Schützenfestes

Ich bin bekennender Friedhofsfan. Neben der Architektur von Grabmälern fasziniert mich auch die Geschichte, die auf den meisten Gottesackern gewahr wird.
Auf dem Neuen Luisenstädtischem Kirchhof in der Neuköllner Hermannstraße entdeckte ich einen Obelisken mit der Inschrift:
Hier ruhen in Gott die am 2ten September 1883 in Steglitz verunglückten Schützenbrüder nebst Angehörigen / Dem Andenken gewidmet von deutschen Schützen

Über der Inschrift ein Eichenkranz mit zwei sich überkreuzenden Gewehren.
Was war passiert?
Vermutlich ist meine Fantasie durch übermäßigen Genuss von Psychothrillern etwas zu ausgeprägt. So dachte ich zunächst, dass vielleicht Schießpulver in Brand geraten war. Ich hätte mir auch vorstellen können, dass ein „durchgeknallter“ Schützenbruder Amok gelaufen ist.
Zum Glück gibt es das Internet. Nachdem ich Google mit entsprechenden Suchbegriffen gefüttert hatte, fand ich nähere Informationen.
An jenem Sonntag 1883 hatten die Steglitzer Schützenbrüder ein Fest gefeiert, zu dem auch Schützen aus dem damaligen Rixdorf (heute Neukölln) mit Kind und Kegel angereist waren. Nach dem Fest – es muss gegen 21.30 Uhr gewesen sein - zogen die Rixdorfer Schützen gut gelaunt zum nahe gelegenen Bahnhof von Steglitz. Dieser befand sich in der Nähe des heutigen S-Bahnhofs Rathaus Steglitz, jedoch in etwa auf der Höhe des alten Postamtes. Als die Gruppe die Bahnschranken des auf Straßenniveau liegenden Bahngeländes erreicht hatten, sahen sie den bereitstehenden Zug nach Berlin. Panik machte sich breit, dass der Zug ohne die Rixdorfer abfahren könnte. Und so überwanden die Leute die Absperrungen und stürmten auf den wartenden Zug zu. Viel zu spät bemerkten sie den herannahenden Schnellzug (Courierzug) aus Berlin, der schließlich fast ungebremst in die Menschenmenge fuhr.
Die Bilder, die sich Zeugen geboten haben, müssen ausgesprochen erschreckend gewesen sein.
Wir kennen alle die Bilder des Zugunglücks von Eschede. Nun wird der Schnellzug sicherlich nicht mit 210, sondern schätzungsweise mit vielleicht 65 km/h unterwegs gewesen sein. Dennoch muss das Ausmaß der Zerstörung selbst bei dieser geringen Geschwindigkeit grauenvoll gewesen sein.
Heutzutage hätte ein Augenzeuge schnell sein Mobiltelefon gezückt und binnen weniger Minuten wären Rettungskräfte am Unfallort eingetroffen. Damals gab es noch nicht einmal Lautsprecher, über welche die Bahnbediensteten die auf die Gleise stürmenden Menschen hätten warnen können. Der Rettungsdienst, wie wir ihn heute kennen und schätzen, befand sich Ende des 19. Jahrhunderts noch in den Kinderschuhen. Zwar gab es bereits erste Krankentransport-unternehmen, aber die hatten weder Blaulicht, noch Martinshorn und waren mit etwa zwei PS, nämlich in Droschkenform, unterwegs. Das Universitätsklinikum Benjamin Franklin sollte erst 76 Jahre später errichtet werden, auf dessen Gelände befand sich damals das Kreiskrankenhaus Steglitz. Immerhin rund 2 ¼ Kilometer entfernt. Wie ging die Rettung und der Transport der Verletzten am jenem Septemberabend vonstatten? Wie sahen damals die Erste-Hilfe-Maßnahmen aus?
Laut Wikipedia lag die Zahl der Todesopfer zwischen 19 und 70, der Steglitzer Heimatverein berichtet von 39 Toten, davon vier Kinder. Acht (Wikipedia) bzw. sechs (Steglitzer Heimatverein) Menschen wurden schwerverletzt, etliche andere kamen mit leichteren Blessuren davon. Die grausam verstümmelten Toten sollen in einem Raum des Bahnhofgebäudes aufgebahrt worden sein.
An dieses furchtbare Unglück erinnert in Steglitz nichts mehr (von den Dokumenten im Archiv des o.g. Heimatvereins abgesehen). Nur der Obelisk in Neukölln mahnt den Opfern.

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